Mit DER BABADOOK hat die Regisseurin und Drehbuchautorin Jennifer Kent im Jahr 2014 einen kleinen Überraschungshit gelandet. Sie hat bereits dort bewiesen, dass sie mit schwer zugänglichen Themen umzugehen weiß. In DER BABADOOK treibt eine Psychose eine alleinerziehende Mutter in den Wahnsinn – ein Tabuthema im Mainstream-Horror.
Obwohl ihr nach dem Erfolg von DER BABADOOK die Türen in Hollywood wahrscheinlich offenstehen, bleibt sich Jennifer Kent treu. In ihrem neuen Film THE NIGHTINGALE – SCHREI NACH RACHE rechnet die gebürtige Australierin mit der Geschichte ihres eigenen Landes ab. Sie übt Kritik an der Kolonialisierungsgeschichte Australiens, der Unterdrückung der Frau und an dem Genozid der Ureinwohner.


Handlung:

Die junge irische Clare (Aisling Franciosi) lebt mit ihrem Mann (Michael Sheasby) und ihrem Baby als nahezu Rechtelose in der britischen Strafkolonie Van Diemen´s Land (heute Tasmanien). Sie hofft, dass der britische Leutnant Hawkins (Sam Claflin) sie in die Freiheit entlässt – doch dieser findet an seiner „singenden Nachtigall“ Gefallen. Die Situation eskaliert, Clare wird mehrfach missbraucht und muss zudem mit ansehen, wie ihre Familie grausam ermordet wird.
Getrieben von dem Wunsch nach Rache und Vergeltung, will sie ihre Peiniger zur Strecke bringen. Unterstützt wird Clare dabei von dem einheimischen Fährtenleser Billy (Baykali Ganambarr).

© Koch Films GmbH
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Ein Akt der Grausamkeit

Der Auftakt von THE NIGHTINGALE – SCHREI NACH RACHE entfaltet eine intensive, brutale und fast schon widerwärtige Wucht. Die Zuschauer werden gequält der abartigen Grausamkeiten und müssen schonungslos mit ansehen, wie unsere Protagonistin alles verliert. Mit offenem Mund zurückgelassen, kommen wir und auch Clare ein wenig zur Ruhe. Ruhe die wir auch tatsächlich brauchen, denn der erste Akt sitzt.

Im restlichen Verlauf wird die gequälte Seele selber zur Jägerin. An ihrer Seite der fährtenlesende Aborigine Billy. Auf ihrer langen Jagd durch den tasmanischen Dschungel lernt Clare schnell was es heißt, als Frau (alleine) unterwegs zu sein. Billy zieht sich oftmals zurück. Er kennt die Gefahren und ist als Ureinwohner zum sog. Abschuss freigegeben. Die Regisseurin geht hier schonungslos mit dem stattgefundenen Genozid ins Gericht und zeigt auf, wie furchtbar diese Epoche letztlich war.

Die Kritik an der britischen Kolonialisierung geht jedoch zu Lasten der Story. Nach dem sehr einnehmenden Auftakt verliert sich die Geschichte dann doch zu sehr und dreht sich oftmals im Kreis. Durch das Hinauszögern verliert THE NIGHTINGALE – SCHREI NACH RACHE seine emotionale Wirkung und Tragweite ein wenig.

Tasmanien: 1825

Das Setting und die Kostüme sind authentisch und gut in Szene gesetzt. Neben einigen Bauernhäusern im Kolonialstil sehen wir die tasmanische Wildnis. Einen tasmanischen Teufel sehen wir leider nicht – doch der Teufel steckt im privilegierten weißen Mann. Dieses wird Clare auf ihrer langen Reise bewusst und nach anfänglichen Vorbehalten gegenüber ihrem Fährtenleser entwickelt sich eine innige Freundschaft. Eine Charakterentwicklung die nachvollziehbar ist – teilen doch beide ein ähnliches Schicksal. Insgesamt ist die Charakterbeschreibung und -entwicklung sehr gut und nachvollziehbar. Logiklöcher oder ähnliches findet man vergebens.

© Koch Films GmbH
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Ein verstörend gutes Schauspiel

Die irisch-italienische Schauspielerin Aisling Franciosi (u. a. aus der britischen Serie THE FALL: TOD IN BELFAST) spielt die Clare erschreckend authentisch. Mit dieser Darstellung hat sie sich auf jeden Fall für größere Projekte beworben. Aber auch ihre Kollegen haben einen großartigen Job gemacht.
Sam Claflin (u. a. EIN GANZES HALBES JAHR) als widerlicher und abstoßender Leutnant Hawkins oder auch Baykali Ganambarr, der sein Schauspieldebüt gab.

THE NIGHTINGALE – SCHREI NACH RACHE ist ein tolles Rape-and-Revenge-Drama, welches gerade zum Auftakt eine unglaubliche Wucht entfaltet. Dieser anfängliche Sog verliert sich jedoch während der Laufzeit. Auch inszenatorisch hat THE NIGHTINGALE – SCHREI NACH RACHE einige Schwächen. Wenngleich die wenigen Gewaltspitzen saftig und handwerklich gut umgesetzt sind.
Die schauspielerische Leistung ist großartig und Jennifer Kent hat meiner Meinung nach bewiesen, dass sie keine Eintagsfliege ist.


Bloodfest vergibt 4 von 5 Punkten

Veröffentlichung: THE NIGHTINGALE – SCHREI NACH RACHE ist seit dem 25.06.2020 als Blu-Ray, DVD, im Mediabook und digital zu erwerben.
Verleih: Koch Films GmbH
Im Test hatte Bloodfest die DVD.

Trailer:

https://www.youtube.com/watch?v=I5QsSrv-QU8
Marco Schilke
marco.schilke@bloodfest.de

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